Selbstmedikation: Kluger Doktor Schimpanse
JULIETTE
IRMER
16. Mai 2015, 10:00
Wenn sich Schimpansen nicht wohl
fühlen, kurieren sie sich mit Heilpflanzen. Die Frage ist, ob das auch für den
Menschen interessant sein könnte
An einem frühen Morgen im Regenwald Ugandas: Yogi,
ein Schimpansenmännchen, entfernt sich von seiner Gruppe und sucht gezielt
einen bestimmten Strauch auf. Vorsichtig zupft er mit den Lippen eines der
haarigen Blätter ab, faltet es mit seiner Zunge und schluckt es, unzerkaut, mit
Mühe herunter. Bis zu 30 Blätter würgt Yogi herunter. Einige Stunden später
scheidet er einen Klumpen Blätter mitsamt Darmwürmern aus.
Die Tierärztin Sabrina Krief vom
staatlichen Naturkundemuseum in Paris hat solche Szenen wiederholt beobachtet:
Seit 15 Jahren erforscht sie die Heilkünste der Schimpansen im ugandischen
Nationalpark Kibale. "Es ist die erste wissenschaftliche Beobachtung von
Schimpansen, die durchgeführt wird, um Medikamente für
den Menschen zu finden", sagt Krief.
Die Arbeit ist nicht einfach. Es braucht viel
Erfahrung, um zu unterscheiden, ob ein Schimpanse frisst, weil er hungrig ist,
oder ob er etwas frisst, weil er krank ist. Krief und ihre Kollegen haben
monatelang alle Futterpflanzen fotografiert, gesammelt und in Herbarien
angelegt, um die Arten zu bestimmen. Das Forscherteam identifizierte 300
Pflanzenteile, die zum Nahrungsrepertoire der 50 Schimpansen gehören, die sie
beobachten.
Pflanzen gegen
Würmer und Malaria
Die Forscher protokollieren das Fressverhalten
krank wirkender Tiere, sammeln deren Urin und Kot ein, um die Ausscheidungen
auf Parasiten zu testen und gleichen die Daten ab. So leiden Schimpansen, aber
auch Bonobos und Gorillas, die wie Yogi haarige "Blattpillen"
schlucken, immer an Würmern. Die rauen, unzerkauten Blätter wirken mechanisch:
Sie regen die Darmtätigkeit stark an, so dass die Würmer leichter ausgeschieden
werden.
Auch an Malaria erkrankte Schimpansen wissen sich
zu helfen: Sie fressen dann die extrem bitteren Blätter des Baumes Trichilia
rubescens. "Wir haben die chemische Struktur der Moleküle bestimmt und sie
wirken ähnlich wie Chloroquine – ein gängiges Malariamittel des Menschen",
sagt Krief. Anders als der Mensch verlassen sich Schimpansen aber nicht nur auf
eine Substanz: "Sie nutzen acht weitere Pflanzenarten, deren Extrakte alle
gegen den Malariaerreger aktiv sind."
Die Substanzen unterscheiden sich in ihrer
chemischen Struktur und ihrer Wirkweise. Das macht es den Malariaerregern
schwer, Resistenzen zu entwickeln – ein häufiges Problem der Malariabekämpfung
beim Menschen.
Gesunde Instinkte
Einer der Pioniere der Selbstmedikation ist
Michael Huffmann von der Universität Kyoto. Schon vor 30 Jahren beobachtete er
Schimpansen, die bei Wurmbefall das bittere Mark der Pflanze Vernonia
amygdalina aussaugten. Laboruntersuchungen ergaben, dass sie antibakteriell und
antiparasitär wirkende Substanzen enthält und in ganz Afrika auch von Menschen
genutzt wird.
"Evolutionsbiologisch betrachtet, ist die
Erhaltung der Gesundheit überlebenswichtig. Es ist zu erwarten, dass alle heute
lebenden Tiere Mechanismen entwickelt haben, sich gegen Parasiten zu
schützen", sagt Huffmann. Tatsächlich betreiben sehr viel mehr Tierarten
Selbstmedikation als zu Beginn gedacht: Manche Vögel reiben sich Ameisen ins
Gefieder, weil Ameisensäure Läuse und Milben vertreibt. Die gleiche Wirkung hat
Nikotin. Weswegen Spatzen gerne Zigarettenstummel in ihre Nester legen.
Auch Hunde und Katzen wissen sich bei
Verdauungsproblemen zu helfen und fressen Gras. Und selbst Insekten verteidigen
sich – manche beugen sogar vor und schützen ihre Nachkommen: Bei drohendem
Parasitenbefall legt der Monarchfalter seine Eier auf Seidenpflanzen, deren
Inhaltsstoffe Parasiten abschrecken. Und Taufliegen legen ihre Eier in
vergorene Früchte, deren hoher Alkoholgehalt räuberische Wespen fernhält.
Natürliche Selektion
Doch woher wissen Schimpansen
welche Pflanzen bei Durchfall helfen, woher wissen Spatzen, dass
Zigarettenstummel Milben vertreiben und Taufliegen, dass Wespen keinen Alkohol mögen?
"Ob sich Schimpansen bewusst behandeln, wissen wir nicht", sagt
Krief. Ihr Verhalten – und auch das der Tiere, die mit weniger Intelligenz
gesegnet sind – lässt sich auch mithilfe der natürlichen Selektion erklären:
Durch Zufall (Mutation) hat Yogi eine veränderte Genvariante, die ihn
"neugierig" auf neue Nahrung macht. Er frisst die Blätter des Baumes
X, die von seinen Artgenossen gemieden werden. Er ist dadurch gesünder und lebt
länger als die anderen Schimpansen.
Entsprechend mehr Nachkommen – mit der gleichen
Genvariante – zeugt er, die ebenfalls eine Vorliebe für diese Blätter haben. So
lassen sich auch die Zigarettenstummel und die vergorenen Früchte erklären.
Lernen von und bei Affen
Bei Affen spielt auch das Lernen eine Rolle: Yogi
könnte sich an die wohltuende Wirkung des Baumes X erinnern und ihn bei
Bauchgrummeln erneut aufsuchen. Da Primaten viel voneinander lernen, vor allem
Jungtiere von der Mutter, verbreitet sich das Verhalten in der Gruppe – auch
von Generation zu Generation. Krief ist überzeugt, dass auch wir von den
Heilkünsten der Schimpansen lernen können.
Die Tierärztin hat in den vergangenen Jahren in
Zusammenarbeit mit der ugandischen Universität, der Behörde zur Erhaltung der
Flora und Fauna sowie dem CNRS (Centre national de la recherche scientifique)
über 1.000 Pflanzenextrakte analysiert. Dabei konnten 20 pharmakologisch
wirksame Substanzen identifiziert werden.
Nur ein Bruchteil der Pflanzen
erforscht
Ob daraus Medikamente entstehen, wird man erst in
einigen Jahren wissen – die Entwicklung ist mit aufwändigen Tests verbunden und
entsprechend langwierig. Tatsächlich werden neue Wirkstoffe dringend benötigt.
Gegen viele Volkskrankheiten –
Arteriosklerose, bestimmte Krebsformen, rheumatische und allergische
Erkrankungen – gibt es nach wie vor keine wirksamen, weil heilenden Arzneien.
"Etwa 30 bis 40 Prozent aller Medikamente gehen auf Pflanzenverbindungen
zurück", schätzt Peter Proksch vom Institut für Pharmazeutische Biologie und
Biotechnologie der Universität Düsseldorf.
Dabei sind von den weltweit bekannten 300.000
Pflanzenarten gerade einmal zehn bis 20 Prozent biologisch und chemisch
vollständig erforscht. Heilpflanzen, mit denen Tiere zum Teil schon seit
Jahrmillionen experimentieren, könnten sich hier als eine Art Wegweiser
entpuppen – vorausgesetzt, der Mensch überlässt den Affen die Regenwälder mit
ihrer teilweise noch unerforschten Pflanzenvielfalt. (Juliette Irmer,
16.5.2015)
Ausstellungstipp:
Die Ausstellung "Sur la piste des grands singes" (Auf der
Spur der Großaffen) im Naturkundemuseum in Paris läuft noch bis März 2016.
Originalstudien zum Thema:
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(800x561)
foto: science photo
library/picturedesk
Wenn Affen sich schlecht fühlen, liegt es oft
daran, dass ihnen Parasiten im Darm zu schaffen machen. Dieser Schimpanse weiß,
welche Blätter er essen muss, damit er die Würmer los wird.
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(800x533)
foto: apa/epa/daniel irungu
Primaten lernen viel voneinander, vor allem
Jungtiere von der Mutter. Auf diese Weise verbreitet sich das Verhalten in der
Gruppe – von Generation zu Generation.
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foto: ap/martin meissner
Ob die Selbstmedikation auch Teil des
"Lernens am Modell" ist, konnten Wissenschaftler noch nicht klären.
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